Aggressivität vs. Reaktivität – Was dein Hund dir wirklich sagen will
Du bist wie jeden Tag mit deinem Hund spazieren, achtsam und auf der Hut, denn jederzeit könnten andere Hunde mit ihren Menschen um die Ecke biegen. Und ehe du dich versiehst, ist es soweit. Ein Fremdhund kommt ins Blickfeld deines Hundes, und plötzlich zieht er nach vorne, bellt laut und wirft sich in die Leine. Die Blicke der anderen Menschen verunsichern dich extrem, und dazu kommt noch, dass dein Hund schnell als „aggressiv“ abgestempelt wird. Ein Urteil, das man nicht einfach so mal wieder loswird. Du fühlst dich überfordert, unsicher und gestresst. Und leider beginnt hier in vielen Fällen ein Teufelskreis. Denn sobald der Hund in die Schublade mit der Aufschrift „aggressiv“ gesteckt wird, kommen oft falsche Trainingsmethoden zum Einsatz, die alles nur noch verschlimmern, statt zu verbessern.
Aber was, wenn all das nur auf einer falschen Einschätzung beruht? Was, wenn dein Hund nicht aggressiv ist, sondern reaktiv? Und was bedeutet das eigentlich genau?
Denn Reaktivität und Aggressivität sind zwei völlig unterschiedliche Dinge – auch wenn sie für Außenstehende oft gleich aussehen.
In dieser Folge räumen wir gründlich auf mit den Mythen und erklären dir, was im Kopf deines Hundes wirklich passiert, warum er so reagiert und wie du das erkennen kannst – bevor es zu unnötigen Problemen kommt, die dich und deinen Hund belasten.
Was ist Reaktivität?
Reaktivität beschreibt eine erhöhte Erregbarkeit oder Überempfindlichkeit gegenüber Reizen.
Ein reaktiver Hund reagiert schneller, intensiver und weniger gefiltert auf äußere Reize – seien es Menschen, Hunde, Geräusche, Bewegungen oder Gerüche.
Das bedeutet nicht, dass dieser Hund „gefährlich“ ist. Es bedeutet, dass sein Nervensystem auf bestimmte Reize empfindlicher reagiert als bei anderen Hunden.
Er ist schneller im „Alarmmodus“, springt also leichter in eine Stressreaktion – und das ist zunächst mal neutral. Es ist weder „gut“ noch „böse“ – sondern eine individuelle Verarbeitung von Umweltreizen.
Beispiel:
Ein Hund sieht einen anderen Hund auf der Straße. Statt kurz zu schauen und weiterzugehen, geht sein System sofort auf 180 – Bellen, Ziehen, Springen. Nicht aus Bosheit. Sondern weil sein Gehirn auf diesen Reiz überempfindlich reagiert.
Was ist Aggressivität?
Aggressivität ist ein zielgerichtetes Verhalten, das dazu dient, Distanz zu schaffen, Ressourcen zu verteidigen oder sich gegen eine empfundene Bedrohung zu schützen.
Es ist ein völlig normales und evolutionär sinnvolles Verhalten – nicht nur bei Hunden, sondern bei allen sozialen Säugetieren. Auch beim Menschen.
Aggression ist also ein Kommunikationsmittel – sie will etwas erreichen:
🛑 Stopp, geh weg.
🛑 Lass das.
🛑 Das gehört mir.
🛑 Ich fühl mich bedroht.
Das Ziel ist Distanz, Schutz oder Kontrolle über eine Situation. Und nicht: „Ich will dir schaden.“
Aggressives Verhalten ist meist vorhersehbar, eskaliert in Stufen, und ist nicht dauerhaft.
Ein Hund, der aggressiv handelt, zeigt meist klare Signale – wenn man sie lesen kann:
Fixieren, Körperspannung, Zähne zeigen, Knurren, Abwehrschnappen, und erst dann ggf. ein Angriff.
Reaktivität vs. Aggressivität – der Unterschied
Reaktivität und Aggressivität werden im Alltag oft in einen Topf geworfen – dabei handelt es sich um zwei ganz unterschiedliche Dinge. Und diese Unterscheidung ist entscheidend, wenn wir Hunde wirklich verstehen und fair begleiten wollen.
🔹 Reaktivität beschreibt in erster Linie einen Zustand – nämlich eine schnelle, emotionale und unkontrollierte Reaktion auf einen äußeren Reiz.
Das Nervensystem des Hundes springt blitzschnell an, häufig ohne „Zwischenstopp“ im Denkzentrum. Das kann passieren, wenn ein anderer Hund auftaucht, ein Geräusch ertönt, ein Mensch sich schnell nähert oder ein bestimmter Auslöser auftaucht, auf den der Hund besonders empfindlich reagiert. Die Reaktion erfolgt impulsiv, übererregt, reflexartig – nicht geplant, nicht gezielt.
Typisch ist: Der Hund bellt, springt in die Leine, schnappt in die Luft oder zeigt hektisches, chaotisches Verhalten. Manchmal wirkt es fast panisch, in manchen Fällen geradezu hysterisch. Doch all das passiert nicht „mit Absicht“ – sondern weil das Nervensystem im Alarmzustand überläuft. Reaktivität ist eine Form von emotionaler Überforderung – keine bewusste Entscheidung.
🔹 Aggressivität hingegen ist ein Verhalten – das ein konkretes Ziel verfolgt. Es ist nicht unbedingt laut, nicht immer explosiv, und schon gar nicht planlos.
Ein aggressiver Hund will etwas erreichen: Er möchte Distanz schaffen, Ressourcen sichern, sich gegen eine Bedrohung schützen oder Kontrolle über eine Situation gewinnen.
Aggressives Verhalten entsteht nicht „einfach so“, sondern hat meist eine innere Logik – zumindest aus Sicht des Hundes. Es ist gezielt, kalkuliert und häufig vorhersehbar, wenn man die Körpersprache des Hundes lesen kann.
Der Hund fixiert vielleicht, spannt sich an, knurrt, zeigt die Zähne – und wenn all das nicht reicht, folgt ein Angriff. Aggression ist Kommunikation mit klarer Botschaft, kein Kontrollverlust.
👉 Reaktive Hunde wirken oft aggressiv, sind es aber nicht.
Denn sie zeigen äußerlich vielleicht ähnliche Verhaltensweisen – Bellen, Schnappen, nach vorne gehen –, aber aus völlig anderen Gründen.
Der reaktive Hund kann in dem Moment nicht anders, er wird überflutet von innerem Stress. Sein Verhalten ist nicht zielgerichtet, sondern Ausdruck von Überforderung, Unsicherheit, Angst oder mangelnder Selbstregulation. Es geht ihm nicht darum, zu schaden oder zu kontrollieren, sondern darum, irgendwie mit der Situation klarzukommen.
Das ist ein entscheidender Punkt:
🐾 Reaktivität ist Ausdruck von Not.
🐾 Aggressivität ist Ausdruck eines Anliegens.
Wer hier falsch interpretiert, kann viel kaputt machen – besonders, wenn dann mit Strafe, Unterdrückung oder Dominanz gearbeitet wird. Denn genau das führt dazu, dass der Hund noch unsicherer, noch angespannter und irgendwann tatsächlich aggressiv wird – nicht aus Bosheit, sondern weil er keine andere Wahl mehr hat.
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Was passiert im Gehirn eines reaktiven Hundes?
Reaktivität ist kein „Ungehorsam“ oder Trotz – sie ist ein neurobiologischer Ausnahmezustand. Im Gehirn eines reaktiven Hundes laufen dabei hochkomplexe Prozesse ab, die in Sekundenbruchteilen entscheiden, wie der Hund auf einen Reiz reagiert. Und diese Reaktion ist selten bewusst steuerbar.
- Die Amygdala – das Angst- und Alarmzentrum – schlägt Alarm.
Die Amygdala ist ein Teil des limbischen Systems und für die emotionale Bewertung von Reizen zuständig – insbesondere für Gefahrenerkennung.
Bei reaktiven Hunden ist die Amygdala häufig besonders sensibel oder überaktiv. Sie „scannt“ ständig die Umgebung und schlägt bei bestimmten Auslösern sofort Alarm – auch wenn objektiv gar keine echte Gefahr besteht. Für den Hund fühlt es sich aber bedrohlich an.. - Der präfrontale Cortex – das Kontrollzentrum – wird „heruntergefahren“.
Der präfrontale Cortex ist für Impulskontrolle, rationale Bewertung und situationsangemessenes Verhalten zuständig – also gewissermaßen das „vernünftige Denken“.
Doch in Stressmomenten wird er deaktiviert. Die Kommunikation zwischen dem emotionalen Gehirn (Amygdala) und dem kognitiven Gehirn (Cortex) bricht ab. Der Hund kann dann nicht mehr denken, nicht mehr analysieren – er reagiert rein instinktiv.
Was bedeutet das konkret für deinen Hund und dich?
➡️ Der Hund ist nicht mehr erreichbar.
In reaktiven Momenten kannst du noch so freundlich reden, noch so gutes Futter anbieten oder Signale geben – nichts davon kommt an. Das Gehirn ist auf Überleben programmiert, nicht auf Kooperation.
➡️ Das Verhalten ist nicht „gesteuert“, sondern reflexartig.
Der Hund entscheidet nicht bewusst, ob er jetzt bellen, ziehen oder schnappen soll – er tut es einfach, weil sein Nervensystem explodiert. Kontrolle von außen ist in dem Moment kaum möglich – es braucht Strategien zur Vorbeugung, nicht zur akuten Korrektur.
➡️ Das System ist im Ausnahmezustand.
Und wie bei jedem Ausnahmezustand gilt: Der Hund braucht Hilfe, nicht Strafe. Er braucht Sicherheit, Abstand, Klarheit – und vor allem: Verständnis für seine emotionale Lage.
Was passiert im Gehirn bei aggressivem Verhalten?
Auch bei aggressivem Verhalten ist die Amygdala beteiligt – schließlich geht es auch hier um die Einschätzung potenzieller Bedrohung. Aber: Der Ablauf unterscheidet sich deutlich von reaktiven Zuständen.
- Der Reiz wird bewusst bewertet.
Das Gehirn prüft: Ist das eine Bedrohung? Muss ich reagieren? – Es findet eine Einschätzung der Situation statt. Die Amygdala ist aktiv, aber nicht im Panikmodus. - Wenn das Bedrohungslevel als hoch genug eingeschätzt wird, wird eine Reaktion geplant.
Das Verhalten entsteht nicht impulsiv, sondern folgt einer inneren Logik: Wie kann ich das Problem lösen? Wie bringe ich den Reiz auf Distanz? - Der Hund zeigt einen strukturierten Ablauf von Drohverhalten.
Das beginnt oft mit Körperspannung, Fixieren, Knurren, Zähne zeigen – also mit kommunikativen Signalen, die dem Gegenüber eine Chance zur Deeskalation geben.
Ein Angriff erfolgt meist erst dann, wenn diese Signale ignoriert werden oder die Eskalation vom Hund als notwendig empfunden wird.
👉 Das Gehirn ist bei aggressivem Verhalten weniger übererregt als bei Reaktivität, sondern eher fokussiert und strategisch.
👉 Der präfrontale Cortex bleibt aktiv, das heißt: Der Hund ist in gewisser Weise „bei sich“, er kann noch denken und abwägen – zumindest innerhalb seiner Möglichkeiten und Lernerfahrungen.
Das bedeutet: Aggression ist kein Kontrollverlust, sondern ein Kommunikationsversuch mit Nachdruck – oft aus Frust, Schutzbedürfnis oder Ressourcenmotivation heraus.
Und auch hier gilt: Wer die Signale richtig liest, kann Eskalationen meist vermeiden.
Wie entsteht Aggressivität? – Das GAM-Modell
Das sogenannte GAM-Modell (General Aggression Model) hilft uns zu verstehen, wie Aggressivität entsteht – auch beim Hund.
Es stammt ursprünglich aus der menschlichen Psychologie und wurde unter anderem von Craig A. Anderson entwickelt.
Das Modell sagt:
Aggression entsteht aus dem Zusammenspiel von Persönlichkeit, Situation und aktueller Stimmung.
Diese drei Bereiche beeinflussen, wie ein Individuum eine Situation interpretiert – und ob es aggressiv reagiert.
Übertragen auf Hunde heißt das:
🧠 Persönlichkeit:
Hat der Hund eine niedrige Reizschwelle, schlechte Erfahrungen, geringe Frustrationstoleranz?
🌍 Situation:
Wie nah ist der Reiz? Gibt es Fluchtmöglichkeiten? Hat der Hund Kontrolle?
🩺 Zustand:
Ist er müde? Gestresst? Schmerzgeplagt? Frustriert? In einer hormonellen Ausnahmesituation?
All diese Faktoren beeinflussen, ob aus einer Reaktion eine aggressive Handlung wird – oder nicht.
Warum das Missverständnis gefährlich ist
Wenn wir reaktives Verhalten als „Aggression“ fehlinterpretieren, hat das oft Folgen:
❌ Hunde werden mit Strafreizen „trainiert“
❌ Vertrauensbasis wird zerstört
❌ Der Stresspegel steigt weiter – und irgendwann wird der Hund aggressiv
Dabei bräuchten diese Hunde etwas ganz anderes:
✔️ Sicherheit
✔️ Führung ohne Druck
✔️ Training, das das Nervensystem reguliert
✔️ Menschen, die sie verstehen
Was du mitnehmen solltest
🔹 Nicht jeder Hund, der knurrt oder bellt, ist aggressiv.
🔹 Reaktivität ist ein Symptom – kein Charakterfehler.
🔹 Aggressivität ist Kommunikation – kein Kontrollverlust.
🔹 Hinter aggressivem Verhalten steckt oft: Stress, Unsicherheit, Frust, Schmerz.
🔹 Dein Job ist es, nicht zu verurteilen – sondern zu verstehen.
Wenn du einen Hund hast, der scheinbar „ausrastet“, dann schau nochmal hin:
Was siehst du wirklich?
Ein gefährliches Tier – oder einen überforderten Hund, der gerade um Hilfe bittet?
Ankündigung:
In den nächsten beiden Folgen spreche ich darüber, wie man mit reaktiven Hunden im Alltag und im Training umgehen kann – was hilft, was eher nicht, und worauf du wirklich achten solltest.
Und danach geht’s weiter mit einer Folge zum Thema Training mit aggressiven Hunden. Ich zeige dir, worauf es ankommt, welche Fehler du vermeiden solltest – und warum Druck hier ganz sicher nicht der richtige Weg ist.
Bleib dran – wir gehen tief rein.
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